Jugendliche tanzen, jede und jeder trägt ein paar Kopfhörer.

Soziale Teilhabe in jugendlichen Peergroups

Portraitaufnahme des Sozialpädagogen und Medienwissenschaftlers André Weßel
André Weßel
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Die Relevanz von Peers und digitalen Medien für die soziale Teilhabe Jugendlicher

Die Belange von Jugendlichen wurden während der Covid-19-Pandemie abseits ihres Daseins als Schüler*innen politisch weitgehend ignoriert – und damit auch ihr Recht auf soziale Teilhabe, schreibt André Weßel. In seinem Beitrag analysiert er, warum Peerbeziehungen so wichtig für das Aufwachsen sind und welche Rolle digitale Medien dabei spielen.

Peerbeziehungen junger Menschen während der Covid-19-Pandemie

Die Covid-19-Pandemie und die umfangreichen Maßnahmen zu ihrer Eindämmung haben den Alltag von Kindern und Jugendlichen stark in Mitleidenschaft gezogen. Kontaktbeschränkungen und die zeitweise Schließung von Schulen und vielen Freizeitangeboten haben bei zahlreichen jungen Menschen zu körperlichen und seelischen Belastungen geführt. Dabei wurden insbesondere das Wegfallen gemeinschaftlicher Räume mit Peers und das damit einhergehende Gefühl von Einsamkeit als einschneidend erlebt (Andresen et al. 2020): 

  • Alles, was Spaß gemacht hat (Sport, mit Freunden treffen, feiern gehen, entspannt in der Schule mit netten Leuten sein) wurde mir verboten und auch wenn ich verstehe, dass das nötig ist, fühle ich mich dadurch sehr einsam.“ (Andresen et al. 2020, S. 9)
  • Einige meiner Freunde haben sich in der Pandemie gar nicht mehr gemeldet. Zu anderen ist der Kontakt wiederum noch enger geworden. Dadurch war ich manchmal richtig glücklich, wenn wir gezoomt oder telefoniert haben, aber hab mich auch manchmal echt einsam gefühlt. Es war auch schwierig, in der Uni neue Freunde zu finden. Auch die digitalen Treffen und Austauschmöglichkeiten waren da nur ein Tropfen auf den heißen Stein.“ (Sina, 20, Mini-Umfrage mit Jugendlichen der TINCON, März 2022)

Erschwerend kommt hinzu, dass die politischen Entscheidungsträger*innen wenig gegen die prekäre Situation junger Menschen in der Pandemie unternommen haben. Auch das im Mai 2021 beschlossene Corona-Aufholpaket hat nur wenig an dem Eindruck ändern können, dass die Belange von Kindern und Jugendlichen abseits ihres Daseins als Schüler*innen weitgehend ignoriert und ihre Stimmen kaum gehört wurden (Gaupp et al. 2021, S. 8). Es schien nicht weiter von Interesse zu sein, dass für viele von ihnen durch das Fehlen von sozialen Peerinteraktionen wichtige Bewältigungsmöglichkeiten für ihre psycho-soziale Entlastung nicht mehr gegeben waren – und das, obwohl ihre Rechte dadurch offenkundig verletzt worden sind. Denn laut UN-Kinderrechtskonvention (Art. 31) haben junge Menschen ein Recht auf Freizeit und Freizeitbeschäftigung, auf Spiel sowie auf altersgemäße und aktive Erholung. Gerade für Jugendliche gehören dazu auch Sozialkontakte zu Peers, mit denen sie zusammen ihre Entwicklungsaufgaben wie Identitätsbildung und Aufbau und Pflege von sozialen Beziehungen bearbeiten können.

  • Es wurde immer nur davon gesprochen, wie wichtig die Schulen für die Kinder sind. Dass Hobbies und AGs uns meistens mehr bedeuten als Unterricht, kam nur selten zur Geltung.“ (Kaja, 18, Mini-Umfrage mit Jugendlichen der TINCON, März 2022)
  • Eigentlich wurde auf junge Menschen allgemein wenig bis gar keine Rücksicht genommen. Studierende haben teilweise ihre Hochschule oder Uni nahezu nie von innen gesehen, Freizeitbeschäftigungen wie zum Beispiel auch Vereinssport mussten ausfallen und die psychische, sowie körperliche Verfassung der meisten Jugendlichen wurde zwar erwähnt, aber nichts zur Besserung getan.“ (Darius, 21, Mini-Umfrage mit Jugendlichen der TINCON, März 2022)

Freundschaften sind jungen Menschen sehr wichtig – aber auch digitale Medien

Mit dem Begriff Peers kann je nach Definition Unterschiedliches gemeint sein (Krüger 2016, S. 38-39): von engeren oder loseren Freund*innen über einen Klassenverband in der Schule bis hin zu Mitgliedern größerer, meist oberflächlicher Netzwerke wie z. B. Online-Communities. In diesem Beitrag wird der Begriff Peerbeziehungen vor allem auf das direkte soziale Umfeld junger Menschen bezogen und die Peergroup als eine Gemeinschaft etwa gleichaltriger, gleichrangiger Jugendlicher verstanden, die als primäre soziale Bezugsgruppe neben der Familie fungiert.

Peerbeziehungen besitzen für junge Menschen traditionell einen hohen Stellenwert, was auch aktuelle Studien zu jugendlichen Lebenswelten bestätigen (Albert et al. 2019; mpfs 2021a). Gute Freundinnen und Freunde zu haben und von ihnen anerkannt und akzeptiert zu werden, ist vielen Jugendlichen mehr wert als eine vertrauensvolle Partnerschaft und ein gutes Familienleben (Schneekloth 2019, S. 106). Dabei nimmt die Wichtigkeit der Peers während des Aufwachsens zu und erreicht mit dem Übergang von der Kindheit zur Jugend eine neue Qualität (Hoffmann 2020, S. 4): Sind sie zunächst vor allem für das gemeinsame Spielen bedeutsam, lösen Peers in der Adoleszenzphase die Eltern als zentrale Bezugspersonen ab und dienen als „Anker“ (Schorb 2009, S. 84), Sozialisationsinstanz sowie Orientierungs- und Bezugspunkt im Bereich der Identitätsentwicklung, Vergemeinschaftung und Bildung. Dies zeigt sich auch in der Freizeitgestaltung: Während von den 6- bis 13-Jährigen nur gut ein Drittel täglich oder mehrmals wöchentlich etwas mit Freund*innen unternimmt, sind es bei den älteren Jugendlichen deutlich über 60 Prozent. Treffen mit Peers avancieren somit zur beliebtesten non-medialen Freizeitbeschäftigung (vgl. Grafik 1), noch vor Sport und Familienaktivitäten (mpfs 2021a, S. 11; mpfs 2021b, S. 14; Wolfert und Leven 2019, S. 214).

 

Grafik zeigt für die Jahre 1998 bis 2021 hohe Zustimmungswerte für die Freizeitaktivität "Freunde treffen"
Grafik 1: Sich mit Freunden bzw. Leuten zu treffen ist bei 12- bis 19-Jährigen seit der ersten JIM-Studie konstant die beliebteste non-mediale Freizeitbeschäftigung, auch wenn sich Jugendliche 2020 und 2021 pandemiebedingt seltener gesehen haben. 29% der 2021 Befragten gaben aber auch an, dass es für sie keinen Unterschied macht, ob sie mit Freund*innen digital oder persönlich kommunizieren.

Die Wichtigkeit der Peers nimmt während des Aufwachsens zu: In der Adoleszenzphase lösen Peers die Eltern als zentrale Bezugspersonen ab und dienen als Anker, Sozialisationsinstanz sowie Orientierungs- und Bezugspunkt im Bereich der Identitätsentwicklung, Vergemeinschaftung und Bildung.

Die Studien zeigen weiterhin, dass bei jungen Menschen neben ihren Peers auch die digitale Mediennutzung hoch im Kurs steht. Für nahezu alle Jugendlichen gehört es zum Alltag, viel Zeit im Internet zu verbringen. Nach einer Selbsteinschätzung sind sie im Schnitt etwa dreieinhalb bis vier Stunden täglich online, sieben von zehn nutzen dafür hauptsächlich ihr Smartphone (mpfs 2021a, S. 33; Wolfert und Leven 2019, S. 224-225). Jugendliches Alltagshandeln ist in hohem Maße digital durchdrungen, analoge und digitale Lebenswelten sind in vielfältiger Form verknüpft. Jugendliche tauschen sich per Handy miteinander aus, fast alle (96 Prozent) kommunizieren jeden Tag über Messengerdienste und/oder soziale Netzwerke (Wolfert und Leven 2019, S. 227). Auch bei gemeinsamen Aktivitäten mit Peers sind häufig digitale Medien involviert: Jugendliche teilen z. B. Fotos, Videos und Musik miteinander und konsumieren diese gemeinsam oder verabreden sich zum Spielen online. Während der Pandemie sind digitale Medien zur Pflege der Peerbeziehungen für viele noch wichtiger geworden, weil zeitweise nur über sie Kontakt- und Interaktionsmöglichkeiten überhaupt gegeben waren.

  • Wir spielen Playstation zusammen. Wir gucken oft zusammen Fernsehen. Wir schreiben. Wir machen Bilder zusammen. Oder wir sitzen mit den Handys einfach nebeneinander und teilen dem anderen mit, was wir grade machen. Und wir haben Musik zusammen.“ (Romy, persönliches Interview, Projekt DigiPäd 24/7, 19.11.2019)
  • Ohne meine Freund*innen hätte mich die Pandemie wahrscheinlich psychisch viel mehr belastet, vor allem während der Lockdowns. Wir haben fast täglich über Discord telefoniert, dadurch sind auch neue und engere Freundschaften entstanden.“ (Kaja, 18, Mini-Umfrage mit Jugendlichen der TINCON, März 2022)

Digitale soziale Teilhabe ist nicht für alle gleichermaßen möglich

Soziale Teilhabe über Medien ist somit für Jugendliche höchst relevant, jedoch längst nicht für alle selbstverständlich. Wissenschaftliche Arbeiten im Kontext der Digital-Divide-Forschung weisen darauf hin, dass nach wie vor nicht alle jungen Menschen digital teilhaben und damit auch nicht die mit dem Medienhandeln einhergehenden Potenziale nutzen können (Iske und Kutscher 2020). Betroffen sind davon meist Kinder und Jugendliche, die ohnehin schon sozialen Ungleichheiten unterliegen – z. B. weil sie in sozioökonomisch benachteiligten Verhältnissen oder in als abgehängt geltenden Regionen mit schlecht ausgebauter digitaler Infrastruktur aufwachsen. Weiterhin gilt dies u. a. auch für junge Menschen, die in stationären Einrichtungen leben, weil sie Leistungen der Jugendhilfe erhalten,  eine Beeinträchtigung oder eine Fluchtgeschichte haben (Tillmann und Weßel 2021; Bosse 2017; Kutscher und Kreß 2015). Bereits vorhandene soziale Ungleichheiten werden z. B. dann digital reproduziert, wenn junge Menschen nur geringe finanzielle Mittel für internetfähige Geräte oder notwendige Verträge zur Verfügung haben und ihnen somit kein dauerhafter, ausreichend schneller Zugang zum digitalen Umfeld möglich ist (First Level Digital Divide) oder wenn ihnen ihr familiäres und (sozial-)pädagogisches Umfeld nur unzureichende Unterstützung im Bereich der Medienkompetenzförderung bietet und sie nur wenige Gelegenheiten für Medienbildung erhalten (Second Level Digital Divide).

  • In meiner Schule haben manche für das ganze Homeschooling ihr Handy verwendet, weil sie sich einen Laptop mit ihren Geschwistern geteilt haben, die dort zeitgleich Videokonferenzen hatten.“ (Kaja, 18, Mini-Umfrage mit Jugendlichen der TINCON, März 2022)
  • Allein schon, weil manche Kinder schon super früh Profile auf Social Media haben, während andere das erst später 'dürfen'. Dadurch kann es zur Ausgrenzung kommen, wenn manche Kinder mit sozialen Netzwerken noch gar nichts am Hut haben und in einer Form als 'nicht zugehörig' kategorisiert werden.“ (Anonym, Mini-Umfrage mit Jugendlichen der TINCON, März 2022)

Dies hat für die betroffenen jungen Menschen auch Auswirkungen im Kontext ihrer (Medien-)Sozialisation, deren Bedingungen, Einflussfaktoren und Prozesse sich im Zuge der fortschreitenden Mediatisierung von Lebens- und Alltagswelten gewandelt haben.

Peers, digitale Medien und ihre Bedeutung für Sozialisationsprozesse

Digitale Medien sind für die Sozialisation junger Menschen von zentraler Bedeutung und erfüllen eine große Bandbreite an Funktionen (Vollbrecht 2003, S. 14-15; Brüggen 2017, S. 176) –  gerade auch im wechselseitigen Zusammenspiel mit den Peers. Jugendliche nutzen digitale Medien zur Auseinandersetzung mit sich selbst wie auch ihrem sozialen Umfeld: um Anerkennung und Zugehörigkeit zu erfahren und neue Möglichkeiten der Verselbstständigung zu finden, aber auch zur vielfältigen Vergemeinschaftung und zur Kommunikation und Beziehungspflege mit ihren Peers (Hugger und Tillmann 2020, S. 11).

Jugendliche nutzen digitale Medien zur Auseinandersetzung mit sich selbst wie auch ihrem sozialen Umfeld: um Anerkennung und Zugehörigkeit zu erfahren und neue Möglichkeiten der Verselbstständigung zu finden, aber auch zur vielfältigen Vergemeinschaftung und zur Kommunikation und Beziehungspflege mit ihren Peers.

Für die Identitätsbildung werden Medien als sehr wertvoll erlebt, denn Jugendliche erhalten über die digital erweiterten Handlungsräume im Zuge ihrer hochfrequenten Rezeption von Medienangeboten Zugang zu einer ungleich höheren Vielfalt an Identitätsentwürfen, als sie das unmittelbare Lebensumfeld ihnen bieten kann. Aus dieser Masse eine Auswahl zu treffen und auszuhandeln, welche Aspekte als Bezugs- und Orientierungspunkte Relevanz für die Entwicklung der eigenen Identitätskonstruktion entfalten sollen, ist eine schwierige Aufgabe. Matthias Weber zeigt in einer Studie, wie sich junge Menschen innerhalb der Peergroup gegenseitig dabei unterstützen und digitale Medien zur gemeinschaftlichen Identitätsarbeit nutzen (Weber 2015). Gemeinsame Mediennutzung und Anschlusskommunikation zur Einordnung und Bewertung der konsumierten Inhalte erfüllen dabei spezifische identitätsbezogene Funktionen. Die gemeinschaftlichen Rezeptionspraktiken sind für die befragten Jugendlichen unabhängig von Alter, Geschlecht oder Bildungsgrad ein fester Bestandteil ihrer alltäglichen freizeitlichen Peeraktivitäten und scheinen demnach auch im Hinblick auf die Ablösung von elterlichen und familiären Vorgaben sowie auf die wachsende Autonomie in der Freizeitgestaltung Teil einer allgemeinen Jugendkultur zu sein (Weber 2015, S. 135, 339).

Jugendliche sind digital miteinander verbunden

Neben der Identitätsbildung besitzen digitale Medien ebenfalls einen hohen Stellenwert für die Kommunikation im Kontext von Peerbeziehungen. Zwar bewegen sich Jugendliche auch im digitalen Zeitalter weiterhin vorwiegend in ortsgebundenen, aus Nachbarschafts-, Schul- oder Freizeitkontexten rekrutierten Beziehungsnetzen mit jugendtypischen Beziehungsformen, nur bei wenigen besteht der Kontakt mit einer Mehrheit der Freund*innen ausschließlich über soziale Medien (Schulz 2012, S. 271; Wolfert und Quenzel 2019, S. 157-159). Gleichzeitig sind Pflege und Gestaltung dieser Beziehungsnetze jedoch sehr aufwändig geworden: „Allein schon im Hinblick auf die Quantität der dabei stattfindenden mediatisierten Kommunikationspraktiken zeigt sich, dass Jugendliche permanent mit ihren Beziehungen beschäftigt sind“ (Schulz 2012, S. 272).

Digitale Medien sind somit bei Jugendlichen nicht länger nur für bestimmte Teilaspekte, sondern grundlegend für die Konstitution und Gestaltung von Peerbeziehungen von hoher Relevanz. Dabei deuten Forschungsarbeiten zur Peerkommunikation über Messengerdienste und soziale Netzwerke darauf hin, dass für Jugendliche die digitale Teilhabe an der Kommunikation und den Aktivitäten der Gruppe entscheidend ist. Es geht ihnen vor allem um den bloßen Kontakt und Austausch, weniger um die konkreten Inhalte. In erster Linie zählt es, mit den anderen verbunden zu sein und sich auch mit ihnen verbunden zu fühlen (Schmidt et al. 2009, S. 203).

Digitale Medien sind heute grundlegend für die Konstitution und Gestaltung von Peerbeziehungen. In erster Linie zählt es, mit den anderen verbunden zu sein und sich auch mit ihnen verbunden zu fühlen.

Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang das Smartphone (vgl. auch Grafik 2), zu dem viele Jugendliche eine emotionale Bindung aufbauen und es als erweiterten Teil von sich erleben (Heeg et al. 2018, S. 30). Sie eignen es sich u. a. als multifunktionales portables Beziehungsmedium an, mit dessen Hilfe sie dauerhaft kommunizieren oder wenigstens in Bereitschaft dazu sein können (Schulz 2012, S. 272). Dabei legen junge Menschen vor allem Wert auf Verfügbarkeit und Reziprozität. Je enger eine Peerbeziehung sich darstellt, desto größer sind die Erwartungen hinsichtlich lückenloser Interaktionsmöglichkeiten, so dass Phasen oder Orte, in bzw. an denen die andere Person nicht erreichbar ist, weitestgehend ausgeschlossen werden. Über die Interaktionsdichte und die Häufigkeit der Kontakte wird die Beziehung dabei immer wieder neu bestätigt und hergestellt (Eisentraut 2016, S. 230-231).

Für die Kommunikation in der Peergroup spielen zudem Messengergruppen eine zentrale Rolle. Trotz des teils als lästig empfundenen hohen Kommunikationsaufkommens nehmen die meisten Jugendlichen, bedingt z. B. durch die Sorge, etwas zu verpassen und nicht mehr auf dem neusten Stand zu sein („Fear of Missing Out“, Przybylski et al. 2013), an den Gruppen und den dadurch etablierten Gemeinschaftsräumen teil, Teilhabewunsch und Teilhabedruck bestehen gleichermaßen (Siller und Schubert 2021). Über Praktiken wie dem (Nicht-)Einladen oder Entfernen von Personen, einer bewussten (Nicht-)Teilnahme oder aktivem Verlassen der Messengergruppen werden dabei Zugehörigkeiten und Abgrenzungen verhandelt (Eisentraut 2016, S. 233).

Zugang zu digitalen Medien ist unabdingbar für Teilhabe

Es zeigt sich, dass digitale Medien heute sowohl zur Anbahnung und Aufrechterhaltung von Peerbeziehungen als auch bei der Herstellung einer emotionalen Verbundenheit mit den Peers ein wichtiger Faktor sind. Bestimmte onlinebasierte kommunikative Praktiken sind ein derart fester Bestandteil des Alltags von jungen Menschen geworden, dass eine Teilhabe daran nahezu verpflichtend ist, um Anschluss an die Peergroup zu halten. Ein erschwerter Zugang zu digitalen Medien bedeutet somit gleichermaßen auch einen erschwerten Zugang zu Peers und damit zu Freundschaften.

Beispielhaft zeigt sich dies für den Bereich der stationären Erziehungs- und Eingliederungshilfe in einer Studie der TH Köln und der Universität Hildesheim (Tillmann und Weßel 2021). Unter anderem wurden darin Jugendliche, die in Einrichtungen leben, zu ihrem Medienhandeln befragt und berichteten davon, wie sie im Alltag in ihrer digitalen und damit auch sozialen Teilhabe eingeschränkt sind. Im Ergebnis können sie nicht im von ihnen gewünschten Maß Peerbeziehungen aufbauen und pflegen, wie es andere Jugendliche tun. So erklärt Fenja, dass sie sich beim Zusammensein mit anderen Jugendlichen häufig exkludiert fühlt, weil sie ihr Smartphone schon seit Monaten nicht mehr nutzen darf:

  • Die anderen haben ja immer ihr Handy dabei. Dann tauschen die manchmal irgendwie Nummern aus. Oder keine Ahnung. Machen manchmal Bilder oder telefonieren halt mit ihren Eltern. Sagen: ,Okay, ich bin gleich da.‘ Oder: ,Darf ich irgendwie bei ihm übernachten?‘ Oder: ,Darf der bei mir übernachten?‘ Ja. Und ich kann das ja halt nicht machen.“ (Fenja, persönliches Interview, Projekt DigiPäd 24/7, 03.12.2019)
  • „Ich hab halt nen Freund kennengelernt so. Also ein Junge in  <Stadtbezirk>, […] der sich in mich verliebt hat. Und ich hab immer halt Briefe gegeben und so gegenseitig. Haben wir uns näher kennengelernt. Und dann halt wollte er meine Nummer haben. Das ist aber scheiße, weil ich kein Handy hab. Und dann musste ich immer das Telefon nehmen von denen [den Betreuern in der Wohngruppe, Anm. A.W.]. Meinten die immer: ,Ja, das geht nicht. Wir müssen da dran irgendwie dann die ganze Zeit arbeiten.‘ Und da natürlich haben die mir’s auch versaut.“ (Fenja, persönliches Interview, Projekt DigiPäd 24/7, August 2019)

Durch die pädagogische Maßnahme des Handyentzugs wird hier die aufgrund ihrer Lebenssituation ohnehin schon vorhandene Stigmatisierung und Benachteiligung der Jugendlichen auch im digitalen Umfeld reproduziert und ihr Recht auf Teilhabe missachtet – mit gravierenden Auswirkungen auf ihre Peerbeziehungen. Erschwerend kommt hinzu, dass von der Situation junger Menschen in Einrichtungen der stationären Erziehungs- und Eingliederungshilfe wenig Kenntnis genommen wird, weil ihre Digitalität nach wie vor wenig erforscht ist und die dort lebenden Kinder und Jugendlichen in den bekannten Nutzungsstudien (vgl. u. a. Albert et al. 2019; Hasebrink et al. 2019; mpfs 2021a, 2021b) nicht explizit und ausdifferenziert repräsentiert werden (Feyer et al. 2020, S. 6).

Fazit: Allen Jugendlichen muss digitale soziale Teilhabe möglich sein

Der Beitrag hat gezeigt, dass digitale Medien von großer Bedeutung für die soziale Teilhabe von Kindern und Jugendlichen sind. Digitale Teilhabe entscheidet über zentrale Zugänge zum alltäglichen gesellschaftlichen Leben. Sie eröffnet jungen Menschen vielfältige Möglichkeiten zur Bearbeitung von Entwicklungsaufgaben im Bereich von Identitäts- und Beziehungsmanagement und insbesondere auch zur Vergemeinschaftung mit Peers. Aus kinderrechtlicher Perspektive wird daher auch immer wieder gefordert, jungen Menschen soziale Teilhabe auch im digitalen Raum zu ermöglichen, ihnen Zugänge zu schaffen und ihre Fähigkeiten im Umgang mit digitalen Medien zu fördern.

So heben die Leitlinien des Europarats zur Achtung, zum Schutz und zur Verwirklichung der Kinderrechte im digitalen Umfeld hervor, dass digitale Handlungsräume besondere Möglichkeiten für die Rechte junger Menschen bieten, um „zu spielen und sich friedlich zu versammeln und zusammenzuschließen, auch durch Online-Kommunikation, -Spiele, -Netzwerke und -Unterhaltung“ (Europarat 2018, S. 15). In der Allgemeinen Bemerkung Nr. 25 des UN-Kinderrechtsausschusses über die Rechte der Kinder im digitalen Umfeld werden Peers ebenfalls mehrfach explizit erwähnt; junge Menschen begrüßen demnach die Möglichkeiten, sich online mit ihresgleichen treffen, austauschen und auseinandersetzen zu können (UN 2021, Art. 64). Alle Mitgliedsstaaten sind dazu aufgefordert, dafür geeignete und sichere digitale Räume zu schaffen (Art. 66). Daneben sollen sie auch innovative digitale Kultur-, Spiel- und Freizeitangebote bereitstellen, die u. a. eine Förderung von Autonomie, sozialen Fähigkeiten, Kreativität und Zugehörigkeit unterstützen (Art. 107, 108).

Die politischen Entscheidungsträger*innen müssen daher aus kinderrechtlicher und pädagogischer Sicht dafür Sorge tragen, dass für alle jungen Menschen ihre digitale soziale Teilhabe gewährleistet ist, damit sie Peerbeziehungen aufbauen und pflegen können, und zwar ungeachtet dessen, ob sie in einer Einrichtung oder bei ihren Eltern wohnen, welchen sozioökonomischen Hintergrund sie haben, in welchem Bildungsmilieu sie aufwachsen oder ob wir in Krisenzeiten leben. Kinder und Jugendliche haben immer ein Recht auf soziale Teilhabe, auf (Medien-)Bildung und auf Förderung, Schutz und Beteiligung – auch im digitalen Umfeld. 

Handlungsempfehlungen für eine Stärkung von Kinderrechten

Portraitaufnahme des Sozialpädagogen und Medienwissenschaftlers André Weßel
Von André Weßel
André Weßel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medienforschung und Medienpädagogik der TH Köln. Er beschäftigt sich schwerpunktmäßig u. a. mit Digitalisierungsprozessen in stationären Einrichtungen im Kontext Sozialer Arbeit sowie den Bildungspotenzialen und ethisch-moralischen Aspekten digitaler Spielekultur. Neben seiner Tätigkeit an der Hochschule war er über zehn Jahre lang in der Sozialen Arbeit tätig, u. a. in der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Behindertenhilfe.