Im Beitrag leiten Prof. Dr. Isabel Zorn und Meike Cruz Leon her, wie Kinder mit Behinderungen von digitalen Medien profitieren können und welche Hindernisse überwunden werden müssen, um ihnen eine chancengerechte digitale Teilhabe zu ermöglichen. Luisa, 15 Jahre alt, berichtet, wie sich ihr Leben durch Unterstützte Kommunikation und digitale Medien verändert hat und was sie sich wünscht.
Die meisten Kinder nehmen mit digitalen Medien an kindlichen Lebenswelten teil (mpfs 2021): Die Hausaufgaben kommen per E-Mail oder über WhatsApp wird ein Treffen mit Freunden verabredet. Zwar sind Mediennutzung und Medieninteressen von Kindern mit besonderen Bedürfnissen kaum erforscht, es ist aber davon auszugehen, dass diese genauso Medien für Bildung, Unterhaltung und Kommunikation nutzen möchten (Alper 2015, Virnes et al. 2015, Boenisch & Sponholz 2021).
Der vorliegende Beitrag fokussiert Inklusion ausgehend vom kinderrechtlichen Ansatz im Dreieck von Befähigung, Schutz und Teilhabe in der digitalen Welt am Beispiel von Kindern mit Behinderungen. Werden „Behinderungen“ aber nicht als medizinisch-körperliche Einschränkungen gedacht, sondern im Sinne des sozialen Modells als „Be-Hinderungen“ durch die Umwelt, so wird mit dem hier vorgelegten engeren Blick auf Kinder mit Behinderungen eine übertragbare, breitere Perspektive auf Potenziale, Risiken und Hürden für Inklusion ebenfalls ermöglicht.
Die UN-Behindertenrechtskonvention hat festgelegt, dass Medien eine Schlüsselrolle zur gleichberechtigten Teilhabe einnehmen (Art. 9, UN-BRK). Ähnlich positioniert sich nun auch der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes. In seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 25 über die Rechte der Kinder im digitalen Umfeld erkennt er die Wichtigkeit der Digitalisierung für die Teilhabe von Kindern mit Behinderung an und fordert die Vertragsstaaten dazu auf, die Potenziale der zunehmenden Mediatisierung zu nutzen und zu fördern. Damit sind alle ratifizierenden Vertragsstaaten, u.a. Deutschland, zu folgenden Maßnahmen angehalten:
Die Möglichkeiten und Potenziale des Einsatzes und der Nutzung digitaler Medien sowie der inklusiven Medienbildung auch für Kinder mit Behinderungen sind weitgehend unbestritten, es mangelt aber an der Umsetzung (umfassende Darstellungen in Bosse/Schluchter/Zorn 2019). Insbesondere zwischen den Möglichkeiten von Zugang und Nutzung bestehen Benachteiligungen für Kinder und Jugendliche an Förderschulen (Boenisch & Sponholz 2021). Möglichkeiten für Bildung, Befähigung und Teilhabe bestehen aber unabhängig von der Schwere der Behinderung (Maier-Michalitsch/Zuleger 2021).
Kinder haben das Recht auf Bildung (Art. 28, UN-KRK und Art. 99–105, Allg. Bem. Nr. 25), das Recht auf einen adäquaten Zugang zu Medien (Art. 17, UN-KRK) und das Recht darauf, sich zu informieren (Art. 13, UN-KRK). Digitale Medien bieten vielfache Möglichkeiten, damit diese Rechte und die Teilhabe an Bildungsaktivitäten gewährleistet werden (Art. 99, Allg. Bem. Nr. 25). Gerade durch den Einsatz von digitalen Medien kann auf die individuellen Bedürfnisse und Lernvoraussetzungen von Kindern in der Schule eingegangen werden, und Barrieren beim Zugang zu Informationen können reduziert werden (Schulz et al. 2022).
„Meine mediale Kompetenz hat sich enorm erweitert und mir mehr Kommunikation mit Freunden und mehr Interaktions- und Beschäftigungsmöglichkeiten gebracht, worüber ich sehr froh bin.“ (Luisa Székely 2021, 15 Jahre)
Das digitale Umfeld eröffnet Kindern mit Behinderungen neue Möglichkeiten, soziale Beziehungen mit Gleichaltrigen aufzubauen und zu gestalten (Art. 89, Allg. Bem. Nr. 25). Wenn Kinder (bei Behinderung oder Fluchterfahrung) getrennt von ihrer Familie in besonderen Wohnformen leben, so sind digitale Medien wie Chat, Messenger und Videokommunikation von besonderer Bedeutung für die Aufrechterhaltung der Kommunikation (Art. 87). Für nicht verbal, fremdsprachig oder eingeschränkt kommunizierende Kinder sind digitale Werkzeuge, die im Rahmen der Unterstützten Kommunikation eingesetzt werden, für die Beziehungsgestaltung bedeutsam (Bosse 2016).
„Für mich als körperbehindertes Mädchen ist es ein Traum, endlich Lego bauen zu können. Seit einiger Zeit habe ich sogar ein Programm zur Android-Simulation auf meinem Talker, der es mir ermöglicht, fast alle Möglichkeiten eines Smartphones über meinen Computer zu nutzen.“ (Luisa Székely 2021, 15 Jahre)
Digitale Medien unterstützen das Recht auf Spiel, Freizeit und Erholung (Art. 31, UN-KRK und Art. 106–111, Allg. Bem. Nr. 25), da die digitale Welt vielseitige Produkte und Dienstleistungen anbietet, die Kindern Spaß machen. Man hat schon lange erkannt, dass insbesondere Kinder und Jugendliche mit Körperbehinderung durch neue technische Entwicklungen und Hilfen besser an Freizeitaktivitäten teilhaben können (z.B., um Spiele zu spielen oder mit Gleichaltrigen zu interagieren) (Mulligan 2003).
Kinder haben das Recht auf Entwicklung und Entfaltung ihrer Persönlichkeit (Art. 2, GG). Kinder nutzen digitale Werkzeuge, um sich selbst zu präsentieren, ihre Interessen zu entwickeln und mit anderen zu teilen. Kindern mit Behinderungen wird durch digitale Medien ermöglicht, sich selbst auszudrücken und durch geeignete Assistenztechnologien selbstbestimmt zu leben (Art. 89, Allg. Bem. Nr. 25).
Durch die mediale Präsentation von Kindern mit Behinderungen in Medien können Inklusionsprozesse angestoßen werden. Unkenntnis, Fehlvorstellungen, Vorurteile und Klischees können abgebaut werden (Bosse 2016). Auch das Bild, das Kinder mit Behinderung von sich selbst haben, kann dadurch positiv beeinflusst werden. Über Blogs können sie erfahren, wie andere ihr Leben (mit Behinderung) gestalten und entwickeln dadurch neue Perspektiven.
Die pädagogische und die gesetzliche Ermöglichung digitaler Teilhabe erfordern Konzepte für Befähigung und Schutz der Kinder. Die Regelungen für ihren Schutz sind demnach mit dem Ziel ihrer Befähigung zu ihrer Teilhabe zu denken, nicht als paternalistische Haltungen. Neben den für alle Kinder relevanten Schutzmaßnahmen (Art. 99, Allg. Bem. Nr. 25 sowie Rechte auf Schutz und Sicherheit [Art. 19, UN-KRK], auf Privatsphäre und Datenschutz [Art. 16, UN-KRK], auf Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung [Art. 32, UN-KRK]) sind für inklusive Bestrebungen besondere Vulnerabilitäten (aber eben auch besondere Teilhabechancen!) mitzudenken.
Schutzkonzepte sind mit dem Ziel der Befähigung zur Teilhabe zu denken, nicht als paternalistische Haltungen. Dabei müssen besondere Vulnerabilitäten und auch besondere Teilhabechancen mitgedacht werden.
Trotz verbriefter Rechte lassen sich dennoch technische, pädagogische und umweltbezogene Barrieren für die mediale Teilhabe aller Kinder finden. Solche Barrieren zeigen sich, …
Um Inklusionsprozesse in der digitalen Welt zu fördern, sind Handlungen verschiedener Akteure gefragt.
„Zudem wünsche ich mir, dass Menschen, welche gesundheitliche oder behinderungsbedingte Risiken haben, egal welchen Alters, in solchen Zeiten eine stärkere politische Berücksichtigung und schnellere Hilfen zum Schutz ihrer Gesundheit bekommen und seitens der Pflegekasse auch mit Hilfsmitteln, die der besseren Teilnahme an der Gesellschaft und Freizeit dienen, versorgt werden.“ (Luisa Székely 2021, 15 Jahre)
Es werden Gelder für individuelle und kollektive Bildungs- und Förderangebote gebraucht (z.B. Medienbildungsmaßnahmen von Kindern und deren Bezugspersonen, Erstellung von barrierefreien digitalen Produkten, Ausstattung von Einrichtungen mit entsprechender Technik). Besonders im individuellen Fall sollte eine unkomplizierte und schnelle Entscheidung für die Kostenübernahme von Angeboten zur Verbesserung der medialen Teilhabe ermöglicht werden.
Außerdem sind gesetzliche Regelungen notwendig, um Beteiligte zu bestimmten Aufgaben zu verpflichten (z.B. Einführung des Unterrichtsfachs „Medienbildung“ an Förderschulen, Leitlinien für Unternehmen zur Entwicklung von Technologien, Apps und Programmen unter der Berücksichtigung der Bedürfnisse von Kindern mit Behinderungen).
„Ich wünsche mir Konferenz- und Videochatprogramme, welche optisch und akustisch besser sind, und überall verwirklichte Barrierefreiheit. Ich finde gut, dass Materialien als bearbeitbare PDFs und computertauglich zur Verfügung gestellt werden.“ (Luisa Székely 2021, 15 Jahre)
Mitarbeitende sollten bei der Entwicklung digitaler Produkten sowohl inklusiv als auch partizipativ vorgehen. Inklusiv bedeutet die Erstellung von barrierefreien, digitalen Formaten, die von ALLEN benutzt werden können (z.B. durch eine Audiospur und Untertitel bei Videos, Bildbeschreibungen auf sozialen Netzwerken, Kontrastveränderungen) (Art. 90 und 91, Allg. Bem. Nr. 25). Wenn Produkte ohne entsprechende barrierefreie Anwendung auf den Markt kommen, besteht die Gefahr, Kinder mit Behinderungen von beliebten Aktivitäten auszuschließen. Entwickler*innen sollten deshalb bei der Konzeptionierung digitaler Produkte die Bedarfe diverser Zielgruppen einbeziehen. Ein partizipatives Vorgehen wäre wünschenswert. Das bedeutet, dass Kinder und deren Angehörige in die Entwicklung von Technologien einbezogen werden sollten. Es ist zu vermuten, dass daraus Innovationen entstehen, die allen Menschen zugutekommen und die technische Entwicklung vorantreiben.
Zudem müssen Maßnahmen zum Schutz der Rechte von Kindern umgesetzt werden. Beispielsweise wäre es möglich, Informationen über Datenverwendung oder anfallende Kosten in Leichter Sprache anzubieten.
Schließlich ist die Abbildung von diversen, auch behinderten Kindern in Medien und die Veröffentlichung ihrer Erfahrungen (Art. 58) notwendig, um die Diversität in der Öffentlichkeit zu zeigen.
„[Es wäre wünschenswert,] dass sowohl die Mitarbeiter*innen in den Schulen als auch die Schulbuchverlage mehr Ahnung von UK [Unterstützter Kommunikation], Computern, Talkern (mit Augensteuerung) und der digitalen Aufbereitung und Zurverfügungstellung von Schulmaterialien bekommen, um unseren Nutzerkreis künftig noch optimaler sowie kompetenter begleiten zu können und uns eine selbstständigere, unabhängigere Arbeitsweise zu ermöglichen.“ (Luisa Székely 2021, 15 Jahre)
Zu diesem Zweck ist eine Sensibilisierung von Mitarbeitenden für den Einsatz von digitalen Medien und eine Anerkennung des analog-digitalen Lebens von Kindern mit Behinderungen (Art. 90, Allg. Bem. Nr. 25) notwendig. Medienkompetenzförderung muss für die Kinder UND für deren Bezugspersonen erfolgen (Art. 31, 32 und 84). Für Lehrkräfte an Schulen und Mitarbeitende in stationären Wohnformen sind Weiterbildungen über geeignete Technologien und Apps sowie sinnvolle Anwendungskontexte erforderlich, damit sie Kindern geeignete Medien anbieten können (Siller/Tillmann/Zorn 2020). Den pädagogischen Fachkräften kommt die Aufgabe zu, alle Kinder zu berücksichtigen und durch Handlungen, Aufklärung und Schutzkonzepte, aber auch durch Bildungsangebote und Medienkompetenzvermittlung (auch für schwerbehinderte Kinder) zu befähigen (Art. 85, Allg. Bem. Nr. 25). Befähigung und Schutz sind dabei gleichermaßen (kenntnisreich) umzusetzen. Gerade benachteiligte Kinder oder in stationären Wohnformen lebende Kinder sind besonders auf die Kenntnisse und Kompetenzen (sozial)pädagogischer Fachkräfte angewiesen. Schulischen Lehrkräften müssen Weiterbildungen angeboten werden, die sie befähigen, behinderten oder fremdsprachigen Kindern den Lernstoff durch geeignete Technologien zugänglich zu machen, um Chancengerechtigkeit zu gewährleisten, z.B. geeignete Geometrie-Apps für Kinder mit motorischer Einschränkung der Handbeweglichkeit.
Neben der Medienkompetenzvermittlung ist eine technische Ausstattung in allen relevanten Einrichtungen und Kontexten erforderlich (Art. 50 und 90). Hier gilt es aber auch Lösungen zu finden, wie Lehrkräfte darin unterstützt werden können, die jeweils geeigneten Technologien zu kennen und einsetzen zu können. Der Aufbau von Beratungsstellen mit entsprechend ausgebildetem Personal für inklusive Medienbildung wäre empfehlenswert. Innerhalb dieser Beratungsstellen könnten Bezugspersonen von Kindern mit Behinderung über den Einsatz von digitalen Medien fortgebildet werden. Dazu zählen auch Sozialarbeiter*innen.
Aufgrund der begrenzten Studienlage bedarf es wissenschaftlicher Nutzungsstudien und Evaluationen der Mediennutzung von behinderten oder vulnerablen Kindern. Diese müssen in verbreiteten Mediennutzungsstudien integriert und ausgewiesen werden. Darüber hinaus wird eine wissenschaftlich fundierte Entwicklung von Weiterbildungsmaßnahmen unter Einbezug aktueller technischer Entwicklungen sowie eine Konzeption inklusiver Medienbildungsangebote gebraucht. Die Potenziale digitaler Technologien zur Kompensation von Behinderung (z.B. digitale Hörförderung, Augensteuerung von Computern oder Verselbstständigungsförderung durch geeignete digitale Medien) sollten exploriert und angewendet werden, wenn sie traditionellen Methoden überlegen sein können (Art. 91 und 95, Allg. Bem. Nr. 25). Auch hier empfiehlt sich ein partizipatives Vorgehen.