Symbolbild Inklusion

Digitale Inklusion von Kindern mit Behinderung

Dr. Isabel Zorn
Meike Cruz Leon
Lesedauer ca. Minuten

Potenziale der Digitalisierung für die Inklusion von Kindern mit Behinderungen

Im Beitrag leiten Prof. Dr. Isabel Zorn und Meike Cruz Leon her, wie Kinder mit Behinderungen von digitalen Medien profitieren können und welche Hindernisse überwunden werden müssen, um ihnen eine chancengerechte digitale Teilhabe zu ermöglichen. Luisa, 15 Jahre alt, berichtet, wie sich ihr Leben durch Unterstützte Kommunikation und digitale Medien verändert hat und was sie sich wünscht.

Kinder mit „Be-Hinderung“ und digitale Inklusion

Die meisten Kinder nehmen mit digitalen Medien an kindlichen Lebenswelten teil (mpfs 2021): Die Hausaufgaben kommen per E-Mail oder über WhatsApp wird ein Treffen mit Freunden verabredet. Zwar sind Mediennutzung und Medieninteressen von Kindern mit besonderen Bedürfnissen kaum erforscht, es ist aber davon auszugehen, dass diese genauso Medien für Bildung, Unterhaltung und Kommunikation nutzen möchten (Alper 2015, Virnes et al. 2015, Boenisch & Sponholz 2021). 

Der vorliegende Beitrag fokussiert Inklusion ausgehend vom kinderrechtlichen Ansatz im Dreieck von Befähigung, Schutz und Teilhabe in der digitalen Welt am Beispiel von Kindern mit Behinderungen. Werden „Behinderungen“ aber nicht als medizinisch-körperliche Einschränkungen gedacht, sondern im Sinne des sozialen Modells als „Be-Hinderungen“ durch die Umwelt, so wird mit dem hier vorgelegten engeren Blick auf Kinder mit Behinderungen eine übertragbare, breitere Perspektive auf Potenziale, Risiken und Hürden für Inklusion ebenfalls ermöglicht. 

Völkerrechtliche Grundlagen für digitale Inklusion

Person im Rollstuhl mit Tablet
Die Schlüsselrolle digitaler Medien für die Inklusion von Kindern mit Behinderung in digitalisierten Lebenswelten ist völkerrechtlich verbrieft. © GAYSORN

Die UN-Behindertenrechtskonvention hat festgelegt, dass Medien eine Schlüsselrolle zur gleichberechtigten Teilhabe einnehmen (Art. 9, UN-BRK). Ähnlich positioniert sich nun auch der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes. In seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 25 über die Rechte der Kinder im digitalen Umfeld erkennt er die Wichtigkeit der Digitalisierung für die Teilhabe von Kindern mit Behinderung an und fordert die Vertragsstaaten dazu auf, die Potenziale der zunehmenden Mediatisierung zu nutzen und zu fördern. Damit sind alle ratifizierenden Vertragsstaaten, u.a. Deutschland, zu folgenden Maßnahmen angehalten:

  • Abbau von Barrieren durch barrierefreie Formate;
  • Bereitstellung von Hilfstechnologien;
  • Abschaffung von diskriminierenden Verfahrensweisen;
  • Sensibilisierung und Schulung von Familien und pädagogischem Personal für die Anwendung von digitalen Medien;
  • Förderung von technologischen Innovationen und Einbezug von Kindermeinungen bei Design- und Herstellungsprozessen;
  • Reduzierung bzw. Abschaffung von digitalen Gefahren für Kinder.

Potenziale digitaler Medien für inklusive Teilhabe und Bildung in verschiedenen Lebensbereichen

Die Möglichkeiten und Potenziale des Einsatzes und der Nutzung digitaler Medien sowie der inklusiven Medienbildung auch für Kinder mit Behinderungen sind weitgehend unbestritten, es mangelt aber an der Umsetzung (umfassende Darstellungen in Bosse/Schluchter/Zorn 2019). Insbesondere zwischen den Möglichkeiten von Zugang und Nutzung bestehen Benachteiligungen für Kinder und Jugendliche an Förderschulen (Boenisch & Sponholz 2021). Möglichkeiten für Bildung, Befähigung und Teilhabe bestehen aber unabhängig von der Schwere der Behinderung (Maier-Michalitsch/Zuleger 2021).

Bildung

Kinder haben das Recht auf Bildung (Art. 28, UN-KRK und Art. 99–105, Allg. Bem. Nr. 25), das Recht auf einen adäquaten Zugang zu Medien (Art. 17, UN-KRK) und das Recht darauf, sich zu informieren (Art. 13, UN-KRK). Digitale Medien bieten vielfache Möglichkeiten, damit diese Rechte und die Teilhabe an Bildungsaktivitäten gewährleistet werden (Art. 99, Allg. Bem. Nr. 25). Gerade durch den Einsatz von digitalen Medien kann auf die individuellen Bedürfnisse und Lernvoraussetzungen von Kindern in der Schule eingegangen werden, und Barrieren beim Zugang zu Informationen können reduziert werden (Schulz et al. 2022).

Gestaltung von Beziehungen

„Meine mediale Kompetenz hat sich enorm erweitert und mir mehr Kommunikation mit Freunden und mehr Interaktions- und Beschäftigungsmöglichkeiten gebracht, worüber ich sehr froh bin.“ (Luisa Székely 2021, 15 Jahre)

Das digitale Umfeld eröffnet Kindern mit Behinderungen neue Möglichkeiten, soziale Beziehungen mit Gleichaltrigen aufzubauen und zu gestalten (Art. 89, Allg. Bem. Nr. 25). Wenn Kinder (bei Behinderung oder Fluchterfahrung) getrennt von ihrer Familie in besonderen Wohnformen leben, so sind digitale Medien wie Chat, Messenger und Videokommunikation von besonderer Bedeutung für die Aufrechterhaltung der Kommunikation (Art. 87). Für nicht verbal, fremdsprachig oder eingeschränkt kommunizierende Kinder sind digitale Werkzeuge, die im Rahmen der Unterstützten Kommunikation eingesetzt werden, für die Beziehungsgestaltung bedeutsam (Bosse 2016).

Freizeit- und Spielmöglichkeiten

„Für mich als körperbehindertes Mädchen ist es ein Traum, endlich Lego bauen zu können. Seit einiger Zeit habe ich sogar ein Programm zur Android-Simulation auf meinem Talker, der es mir ermöglicht, fast alle Möglichkeiten eines Smartphones über meinen Computer zu nutzen.“ (Luisa Székely 2021, 15 Jahre)

Digitale Medien unterstützen das Recht auf Spiel, Freizeit und Erholung (Art. 31, UN-KRK und Art. 106–111, Allg. Bem. Nr. 25), da die digitale Welt vielseitige Produkte und Dienstleistungen anbietet, die Kindern Spaß machen. Man hat schon lange erkannt, dass insbesondere Kinder und Jugendliche mit Körperbehinderung durch neue technische Entwicklungen und Hilfen besser an Freizeitaktivitäten teilhaben können (z.B., um Spiele zu spielen oder mit Gleichaltrigen zu interagieren) (Mulligan 2003).

Persönlichkeitsentwicklung und Selbstbestimmung

Kinder haben das Recht auf Entwicklung und Entfaltung ihrer Persönlichkeit (Art. 2, GG). Kinder nutzen digitale Werkzeuge, um sich selbst zu präsentieren, ihre Interessen zu entwickeln und mit anderen zu teilen. Kindern mit Behinderungen wird durch digitale Medien ermöglicht, sich selbst auszudrücken und durch geeignete Assistenztechnologien selbstbestimmt zu leben (Art. 89, Allg. Bem. Nr. 25).

Durch die mediale Präsentation von Kindern mit Behinderungen in Medien können Inklusionsprozesse angestoßen werden. Unkenntnis, Fehlvorstellungen, Vorurteile und Klischees können abgebaut werden (Bosse 2016). Auch das Bild, das Kinder mit Behinderung von sich selbst haben, kann dadurch positiv beeinflusst werden. Über Blogs können sie erfahren, wie andere ihr Leben (mit Behinderung) gestalten und entwickeln dadurch neue Perspektiven.

Schutzbedarfe von Kindern mit Behinderung im digitalen Raum

Die pädagogische und die gesetzliche Ermöglichung digitaler Teilhabe erfordern Konzepte für Befähigung und Schutz der Kinder. Die Regelungen für ihren Schutz sind demnach mit dem Ziel ihrer Befähigung zu ihrer Teilhabe zu denken, nicht als paternalistische Haltungen. Neben den für alle Kinder relevanten Schutzmaßnahmen (Art. 99, Allg. Bem. Nr. 25 sowie Rechte auf Schutz und Sicherheit [Art. 19, UN-KRK], auf Privatsphäre und Datenschutz [Art. 16, UN-KRK], auf Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung [Art. 32, UN-KRK]) sind für inklusive Bestrebungen besondere Vulnerabilitäten (aber eben auch besondere Teilhabechancen!) mitzudenken.

  1. Besondere Vulnerabilitäten: Mediale Teilhabe erfordert Schutz, denn die Mediennutzung kann mit verschiedenen Risiken verbunden sein. Diese müssen erkannt und bekämpft werden (Art. 92, Allg. Bem. Nr. 25). Nur so können die eben genannten Schutzrechte ALLER Kinder gewährleistet werden. Kinder mit Behinderung könnten aber vulnerabler für digitale Risiken sein, wenn sie – beispielsweise aufgrund einer Lernbehinderung bzw. mangelnder Urteilsfähigkeit – weniger gut Marketingstrategien, Fake News, missbräuchliche Datenerhebungen, Fehlinformationen, Manipulation und Kostenfallen erkennen können als andere Kinder.
  2. Unterstützung bei Entscheidungsfähigkeit: Mangelnde Urteils- bzw. Entscheidungsfähigkeit könnten dazu führen, dass Kinder mit Behinderungen Dinge öffentlich preisgeben, bei denen sie anschließend negativen Reaktionen ausgesetzt sind und Cybermobbing erfahren. Kinder mit Fluchterfahrung, ungeklärtem Aufenthaltsstatus, bedrohten Familienangehörigen bzw. diskriminierten Merkmalen müssen davor geschützt werden, durch undurchdachte Fotoveröffentlichungen, Ortsangaben, Schul- und Wohninformationen Nachteile zu erfahren oder sogar Opfer krimineller Handlungen zu werden. In diesem Zusammenhang sind als potenzielle Gefahren beispielsweise Erpressung oder die Bedrohung von Familienangehörigen zu nennen.
  3. Schutz durch Befähigung: Hier muss Begleitung und Befähigung einsetzen, aber auch das Recht auf Löschung und Kontrolle der eigenen Daten wirksam umsetzbar sein. Aufklärung und Befähigung zum Umgang mit Daten und digitalen Interaktionen muss demnach nicht nur für die Kinder, sondern auch für ihre pädagogische Begleitung erfolgen, da mangelnde Kenntnis der Risiken sowie effektiver Schutzmaßnahmen das Risiko für kompensierende paternalistische Teilhabebeschränkungen bergen.
  4. Gesundheitliche Risiken: Kinder mit traumatisierenden Fluchterfahrungen könnten stärkere psychische Gefährdungen in digitalen Spielewelten riskieren, was bei der Spielentwicklung und -vermarktung, aber auch bei der pädagogischen Begleitung und Aufarbeitung zu berücksichtigen ist, denn Spiele könnten auch positive kathartische Effekte ermöglichen. Kinder mit neurologischen Erkrankungen (z.B. Epilepsie) sind bei speziellen Farb- und Bildwechseln gesundheitlichen Gefahren ausgesetzt, was Anforderungen an die technische Umsetzung der Medienangebote setzt.
  5. Psychische Gefährdungen: Schutz müssen Kinder auch vor Medien bekommen. Besonders Kinder, die z.B. aufgrund von Behinderung und psychischen Herausforderungen besonders gefährdet sind, müssen vor ungeeigneten Inhalten (z.B. Gewaltdarstellungen) geschützt werden. Altersangaben könnten bei Kindern mit kognitiven oder psychischen Beeinträchtigungen zu tief angesetzt sein, sodass ungeeignete Inhalte nicht adäquat verstanden oder eingeordnet werden. Dies könnte zum einen psychische Belastungen verstärken, zum anderen aber auch herausforderndes Verhalten provozieren, wenn Kinder und Jugendliche beispielsweise Handlungen mit Selbstschädigung, übertriebenen Mutproben, Rassismus oder Aufhetzung sehen.

Schutzkonzepte sind mit dem Ziel der Befähigung zur Teilhabe zu denken, nicht als paternalistische Haltungen.  Dabei müssen besondere Vulnerabilitäten und auch besondere Teilhabechancen mitgedacht werden. 

Barrieren bei der medialen Teilhabe

Trotz verbriefter Rechte lassen sich dennoch technische, pädagogische und umweltbezogene Barrieren für die mediale Teilhabe aller Kinder finden. Solche Barrieren zeigen sich,  …

  1. wenn Fach- und Lehrkräfte keine ausreichende medienpädagogische Kompetenz besitzen, um alle Kinder gleichermaßen zu unterstützen.
    Beispiel: Frank kann seine Arme nicht bewegen und hat keine Lautsprache. Er nutzt versiert einen Computer mit Augensteuerung (vgl. Holmquist/Thunberg/Dahlstrand 2018). Englischvokabeln könnte er gut lernen, wenn ihm seine Lehrkraft eine augensteuerungsfähige App mit digitalen Vokabelkarten zur Verfügung stellen würde, anstatt nur auf das Papierlehrbuch der Schulklasse zu verweisen.
  2. wenn Einrichtungen, in denen sich Kinder mit Behinderung aufhalten, nur mangelhaft ausgestattet sind (z.B. schlechte Internetverbindung).
    Beispiel: Lisa hat Autismus. Wenn sie sich in einer Einrichtung zur Kurzzeitpflege aufhält, nehmen ihre Verhaltensauffälligkeiten zu, weil es ihr an Beschäftigung fehlt. Ihre Lieblingsspiele am Tablet kann sie wegen der schlechten Internetverbindung nicht spielen.
  3. wenn in pädagogischer oder therapeutischer Arbeit nicht ausreichend interdisziplinär zusammengearbeitet wird.
    Beispiel: Tom kann sein Multitext (Schreibsoftware) nicht täglich in der Schule benutzen, weil nur der*die Ergotherapeut*in die Funktionen kennt.
  4. wenn Kinder und deren Bezugspersonen nach einer Versorgung mit Unterstützungstechnologien kein professionelles Training im Umgang damit erhalten. Häufig sind die Funktionen von speziellen technischen Hilfen und Anwendungen unbekannt und erfordern eine intensive Betreuung bei der Einführung (Kunze 2021).
    Beispiel: Lisa (stark seheingeschränkt) hat eine Brille mit Vorlesekamera bekommen. Jetzt liegt diese im Schrank, weil niemand mit Lisa die Anwendung übt. Die Lesebrille könnte ihr auch dabei helfen, Geldscheine beim Einkaufen zu erkennen. Doch niemand in ihrem nahen Umfeld kennt diese Funktion.
  5. wenn Barrierefreiheit nicht in allen digitalen Formaten realisiert ist, auch nicht in solchen, die von Kindern favorisiert werden. Laut der KIM-Studie (mpfs 2021) ist YouTube die beliebteste Internetseite für Kinder. Aber gerade hier wird eine eher mittelmäßige Barrierefreiheit festgestellt (Oliveira o.J.). Dadurch besteht die Gefahr, dass Kinder mit Behinderungen von beliebten Aktivitäten exkludiert werden.
    Beispiel: Laura, die eine geistige Behinderung hat, würde gerne Facebook nutzen. Die vielen Funktionen und Informationen kann sie aber nicht überblicken.
  6. wenn technische Entwicklungen inadäquat erfolgen und Entwickler*innen z.B. nur auf die Kompensation einer bestimmten medizinischen Beeinträchtigung fokussieren. In dem Fall werden die sozialen Inklusions- und Exklusionspotenziale der Technologien nicht mitgedacht (Najemnik & Zorn 2016).
    Beispiel: Benjamin findet es langweilig, wenn er am Küchentisch über seine Gebärdenvokabeln abgefragt wird. Viel lieber würde er diese mit einem digitalen Spiel lernen.
  7. wenn Kinder mit Behinderung keine oder zu wenig Medienkompetenz in entsprechenden Bildungsangeboten vermittelt bekommen und nicht lernen, wie sie sich vor digitalen Risiken (z.B. Datenmissbrauch, Mobbing) schützen können. Schutz und Befähigung sind gleichermaßen relevant für mediale Teilhabe, insbesondere bei behinderten Kindern dürfen nicht paternalistische Schutzimpulse die Befähigung zur selbstbestimmten Mediennutzung überdecken.
    Beispiel: Katrin würde gerne Instagram benutzen und sehen, was ihre Freunde darauf teilen. Aber sie hat Angst, etwas falsch zu machen, weil sie nicht alles lesen kann. Ihre Betreuer*innen sorgen sich, dass sie Opfer sexueller Belästigung in den sozialen Medien werden könnte. Anstatt sie pädagogisch unterstützend zu begleiten, wird ihr die Instagram-Nutzung untersagt.

Gelingensbedingungen für die digitale Teilhabe von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen

Um Inklusionsprozesse in der digitalen Welt zu fördern, sind Handlungen verschiedener Akteure gefragt.

Politik und Leistungsträger

„Zudem wünsche ich mir, dass Menschen, welche gesundheitliche oder behinderungsbedingte Risiken haben, egal welchen Alters, in solchen Zeiten eine stärkere politische Berücksichtigung und schnellere Hilfen zum Schutz ihrer Gesundheit bekommen und seitens der Pflegekasse auch mit Hilfsmitteln, die der besseren Teilnahme an der Gesellschaft und Freizeit dienen, versorgt werden.“ (Luisa Székely 2021, 15 Jahre)

Es werden Gelder für individuelle und kollektive Bildungs- und Förderangebote gebraucht (z.B. Medienbildungsmaßnahmen von Kindern und deren Bezugspersonen, Erstellung von barrierefreien digitalen Produkten, Ausstattung von Einrichtungen mit entsprechender Technik). Besonders im individuellen Fall sollte eine unkomplizierte und schnelle Entscheidung für die Kostenübernahme von Angeboten zur Verbesserung der medialen Teilhabe ermöglicht werden.

Außerdem sind gesetzliche Regelungen notwendig, um Beteiligte zu bestimmten Aufgaben zu verpflichten (z.B. Einführung des Unterrichtsfachs „Medienbildung“ an Förderschulen, Leitlinien für Unternehmen zur Entwicklung von Technologien, Apps und Programmen unter der Berücksichtigung der Bedürfnisse von Kindern mit Behinderungen).

Industrie und Medienschaffende

Ich wünsche mir Konferenz- und Videochatprogramme, welche optisch und akustisch besser sind, und überall verwirklichte Barrierefreiheit. Ich finde gut, dass Materialien als bearbeitbare PDFs und computertauglich zur Verfügung gestellt werden.“ (Luisa Székely 2021, 15 Jahre)

Mitarbeitende sollten bei der Entwicklung digitaler Produkten sowohl inklusiv als auch partizipativ vorgehen. Inklusiv bedeutet die Erstellung von barrierefreien, digitalen Formaten, die von ALLEN benutzt werden können (z.B. durch eine Audiospur und Untertitel bei Videos, Bildbeschreibungen auf sozialen Netzwerken, Kontrastveränderungen) (Art. 90 und 91, Allg. Bem. Nr. 25). Wenn Produkte ohne entsprechende barrierefreie Anwendung auf den Markt kommen, besteht die Gefahr, Kinder mit Behinderungen von beliebten Aktivitäten auszuschließen. Entwickler*innen sollten deshalb bei der Konzeptionierung digitaler Produkte die Bedarfe diverser Zielgruppen einbeziehen. Ein partizipatives Vorgehen wäre wünschenswert. Das bedeutet, dass Kinder und deren Angehörige in die Entwicklung von Technologien einbezogen werden sollten. Es ist zu vermuten, dass daraus Innovationen entstehen, die allen Menschen zugutekommen und die technische Entwicklung vorantreiben.

Zudem müssen Maßnahmen zum Schutz der Rechte von Kindern umgesetzt werden. Beispielsweise wäre es möglich, Informationen über Datenverwendung oder anfallende Kosten in Leichter Sprache anzubieten.

Schließlich ist die Abbildung von diversen, auch behinderten Kindern in Medien und die Veröffentlichung ihrer Erfahrungen (Art. 58) notwendig, um die Diversität in der Öffentlichkeit zu zeigen.

Praxisbeispiel: Gebärdete Bilderbuchvideos von Meike Cruz Leon

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Bedarfsgerechte Bilderbuch-Videos für das Lernen von lautsprachunterstützenden Gebärden für Kinder mit kommunikativen und kognitiven Beeinträchtigungen und deren Familien. © Bild: Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg 1997/ © Video: Meike Cruz Leon

Pädagogische und pflegerisch-therapeutische Einrichtungen

„[Es wäre wünschenswert,] dass sowohl die Mitarbeiter*innen in den Schulen als auch die Schulbuchverlage mehr Ahnung von UK [Unterstützter Kommunikation], Computern, Talkern (mit Augensteuerung) und der digitalen Aufbereitung und Zurverfügungstellung von Schulmaterialien bekommen, um unseren Nutzerkreis künftig noch optimaler sowie kompetenter begleiten zu können und uns eine selbstständigere, unabhängigere Arbeitsweise zu ermöglichen.“ (Luisa Székely 2021, 15 Jahre)

Zu diesem Zweck ist eine Sensibilisierung von Mitarbeitenden für den Einsatz von digitalen Medien und eine Anerkennung des analog-digitalen Lebens von Kindern mit Behinderungen (Art. 90, Allg. Bem. Nr. 25) notwendig. Medienkompetenzförderung muss für die Kinder UND für deren Bezugspersonen erfolgen (Art. 31, 32 und 84). Für Lehrkräfte an Schulen und Mitarbeitende in stationären Wohnformen sind Weiterbildungen über geeignete Technologien und Apps sowie sinnvolle Anwendungskontexte erforderlich, damit sie Kindern geeignete Medien anbieten können (Siller/Tillmann/Zorn 2020). Den pädagogischen Fachkräften kommt die Aufgabe zu, alle Kinder zu berücksichtigen und durch Handlungen, Aufklärung und Schutzkonzepte, aber auch durch Bildungsangebote und Medienkompetenzvermittlung (auch für schwerbehinderte Kinder) zu befähigen (Art. 85, Allg. Bem. Nr. 25). Befähigung und Schutz sind dabei gleichermaßen (kenntnisreich) umzusetzen. Gerade benachteiligte Kinder oder in stationären Wohnformen lebende Kinder sind besonders auf die Kenntnisse und Kompetenzen (sozial)pädagogischer Fachkräfte angewiesen. Schulischen Lehrkräften müssen Weiterbildungen angeboten werden, die sie befähigen, behinderten oder fremdsprachigen Kindern den Lernstoff durch geeignete Technologien zugänglich zu machen, um Chancengerechtigkeit zu gewährleisten, z.B. geeignete Geometrie-Apps für Kinder mit motorischer Einschränkung der Handbeweglichkeit.

Neben der Medienkompetenzvermittlung ist eine technische Ausstattung in allen relevanten Einrichtungen und Kontexten erforderlich (Art. 50 und 90). Hier gilt es aber auch Lösungen zu finden, wie Lehrkräfte darin unterstützt werden können, die jeweils geeigneten Technologien zu kennen und einsetzen zu können. Der Aufbau von Beratungsstellen mit entsprechend ausgebildetem Personal für inklusive Medienbildung wäre empfehlenswert. Innerhalb dieser Beratungsstellen könnten Bezugspersonen von Kindern mit Behinderung über den Einsatz von digitalen Medien fortgebildet werden. Dazu zählen auch Sozialarbeiter*innen.

Forschung

Aufgrund der begrenzten Studienlage bedarf es wissenschaftlicher Nutzungsstudien und Evaluationen der Mediennutzung von behinderten oder vulnerablen Kindern. Diese müssen in verbreiteten Mediennutzungsstudien integriert und ausgewiesen werden. Darüber hinaus wird eine wissenschaftlich fundierte Entwicklung von Weiterbildungsmaßnahmen unter Einbezug aktueller technischer Entwicklungen sowie eine Konzeption inklusiver Medienbildungsangebote gebraucht. Die Potenziale digitaler Technologien zur Kompensation von Behinderung (z.B. digitale Hörförderung, Augensteuerung von Computern oder Verselbstständigungsförderung durch geeignete digitale Medien) sollten exploriert und angewendet werden, wenn sie traditionellen Methoden überlegen sein können (Art. 91 und 95, Allg. Bem. Nr. 25). Auch hier empfiehlt sich ein partizipatives Vorgehen.

Handlungsempfehlungen für eine Stärkung von Kinderrechten

Von Dr. Isabel Zorn
Prof. Dr. Isabel Zorn ist Schwerpunktprofessorin an der TH Köln für „Digitalität und soziale Transformation“ sowie Leiterin des Forschungsschwerpunkt DITES – Digitale Technologien und Soziale Dienste an der TH Köln und Mitglied des FSP „Medienwelten“. Sie forscht und lehrt zu Medienbildung – Technologieentwicklung – Inklusion – Digitalität in der Sozialen Arbeit.
Von Meike Cruz Leon
Meike Cruz Leon ist Ergotherapeutin (Bachelor of Health) und absolvierte berufsbegleitend einen Master in handlungsorientierter Medienpädagogik an der Donau-Universität-Krems und der TH Köln. Im Studium beschäftigte sie sich vermehrt damit, wie digitale Medien Bildung, Teilhabe und Aktivität von Menschen mit Beeinträchtigungen unterstützen können.