Kinder- und Jugendhilfe goes digital!?

Prof. Dr. Angelika Beranek
Lesedauer ca. Minuten

Kinder- und Jugendhilfe im Kontext der Digitalisierung

In ihrem Beitrag analysiert Prof. Dr. Angelika Beranek die vielfältigen Potenziale digitaler Medien für Adressat*innen und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Damit diese Potenziale umfassend ausgeschöpft werden können, braucht es einen aktiven Transformationsprozess, der Rahmenbedingungen für einen kompetenten Einsatz digitaler Medien schafft und somit Benachteiligungen abbauen und digitale Teilhabe fördern kann.

Der Einfluss digitaler Lebenswelten auf die Kinder- und Jugendhilfe

„Kinder- und Jugendhilfe mit ihrer Breite der Handlungsfelder und Methoden wird als der Versuch verstanden, auf vielfältige Lebensbewältigungsanforderungen von Eltern und ihren Kindern durch die Bereitstellung einer fördernden, helfenden und schützenden Infrastruktur zu reagieren. Ihre gesamten Aktivitäten sind eingebettet in einen umfassenden Auftrag der politischen Interessenwahrnehmung, der gesellschaftlichen Einflussnahme und der Infrastrukturgestaltung durch öffentliche und freie Träger (z.B. im Rahmen einer offensiven Jugendhilfeplanung, §§ 79, 80 SGB VIII). Je komplexer gesellschaftliche Anforderungen werden und je ungleicher die Teilhabechancen von Menschen in der modernen Gesellschaft verteilt sind, umso vielfältiger müssen die Angebotsstrukturen der Jugendhilfe ausgestaltet sein, um ihren Auftrag erfüllen zu können. Es geht um eine umfassende Verantwortung für die Bedingungen des Aufwachsens von jungen Menschen seitens der Jugendhilfe.“ (Hansbauer/Merchel/Schone 2020, S. 49)

Kinder- und Jugendhilfe ist, wie alle Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit, vom Prozess der Mediatisierung betroffen. Die besondere Stellung von digitalen Medien im Kinder- und Jugendalter sorgt dafür, dass in diesem Arbeitsfeld – das die aktuellen Lebensverhältnisse berücksichtigen soll – diese Betroffenheit starken Einfluss auf die tägliche Arbeit ausübt. Im Folgenden wird dargestellt,

Am Ende des Beitrags werden hierfür unterschiedliche Projekte aus der Praxis dargestellt.

Die Betroffenheit der KJH durch Mediatisierung ist vielschichtig. Sowohl auf der gesellschaftlichen Ebene (komplexe gesellschaftliche Anforderungen) als auch auf der individuellen Ebene (Lebensbewältigungsanforderungen, Bedingungen des Aufwachsens) spielen diese Prozesse eine entscheidende Rolle für die KJH. Spürbar wird dies konkret an den sich ständig entwickelnden Erfahrungs- und Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen, denen die KJH Rechnung tragen sollte. Tillmann beschreibt diese Veränderungen vor allem mit dem Fokus auf die Verschränkung von analog und digital in der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen: „So ist es für junge Menschen inzwischen selbstverständlich, dass sie ergänzend zu und in Verschränkung mit den Online-Welten Autonomie-, Identitäts- und Vergemeinschaftungserfahrungen machen.“ (Tillmann 2018, S. 135)

Digital und analog werden nicht mehr als Gegensätze oder getrennte (Erfahrungs-)Welten angesehen, sondern als eine zusammengehörige Welt wahrgenommen (Postdigitalität). Die Angebotsstrukturen in den unterschiedlichen Leistungsfeldern müssen hieran anschlussfähig werden und sein. Um dies zu erreichen, müssen außerdem neue Formen der Verwaltung entwickelt werden, um zeitgemäße leistungsfähige Arbeits- und Kooperationsformen gewährleisten zu können (vgl. www.kinder-jugendhilfe.info).

Die Angebotsstrukturen in den unterschiedlichen Leistungsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe müssen an postdigitale Lebenswelten junger Menschen anschlussfähig sein.

Betrachtet man diese Entwicklungen aus kinderrechtlicher Sicht, ergeben sich durch die Digitalisierung sowohl Potenziale als auch Herausforderungen, um der zentralen Aufgabe der KJH, dazu beizutragen, Benachteiligungen abzubauen und zu vermeiden sowie positive Lebensbedingungen zu erschaffen, gerecht zu werden (Positionspapier AGJ, SGB VIII).

Kinderrechtliche Aspekte der Digitalisierung in der Kinder- und Jugendhilfe

Kinder interagieren mit Tablets
In nahezu allen Lebensbereichen und Altersgruppen spielen digitale Medien eine bedeutende Rolle. Dementsprechend erstreckt sich der Wirkungsbereich der Kinderrechte auch auf den digitalen Raum. © Syda Productions

Für die KJH spielen insbesondere folgende Rechte eine zentrale Rolle:

  • Das Recht auf Nichtdiskriminierung (Art. 2, UN-KRK), welches durch einen effektiven und bedarfsgerechten Zugang zum digitalen Umfeld umgesetzt werden soll.
  • Das Recht auf Leben, Überleben und Entwicklung (Art. 6, UN-KRK), dass sich u.a. in einer Online- Unterstützungsstruktur in Krisensituationen wiederfinden kann.
  • Ein Recht auf Teilhabe (Art. 12, UN-KRK) und auf Zugang zu Medien (Art. 17, UN-KRK) sowie das Recht auf Kindeswohl (Schutz vor unangemessenen Inhalten, Privatsphäre).

Die Umsetzung dieser Rechte kann Potenziale wie (digitale) Teilhabe, Förderung der Identitätsentwicklung und Abbau von Ungleichheiten eröffnen. Gleichzeitig müssen hierbei Herausforderungen wie Kinderschutz und Datenschutz in den Blick genommen werden.

Um diese Rechte zu sichern, fordert der Ausschuss für die Rechte des Kindes der Vereinten Nationen in der 2021 veröffentlichten Allgemeinen Bemerkung Nr. 25 über die Rechte der Kinder im digitalen Umfeld, dass Eltern und Betreuende dabei unterstützt werden sollten, die notwendige Medienkompetenz aufzubauen. Besonders zentral ist hierbei eine Sensibilisierung der erwachsenen Personen in Bezug auf die zunehmende Selbstständigkeit der Kinder und deren Bedürfnis nach Privatsphäre. Hierbei steht ein angemessenes Gleichgewicht zwischen Schutz und wachsender Autonomie im Fokus. Besonders kreative und soziale Erfahrungen im digitalen Umfeld sollen gefördert werden, wobei gleichzeitig darauf hingewiesen wird, dass digitale Medien die direkte Interaktion zwischen Menschen nicht ersetzen dürfen. Besonders Kindern, die von ihren Familien getrennt sind, ist ein Zugang zu digitalen Technologien zu ermöglichen, immer mit einem Blick auf mögliche Interaktionsrisiken, falls Kindeseltern oder andere Familienmitglieder die Kinder gefährden (Art. 87 und 88, Allgemeine Bemerkung Nr. 25).

Die Umsetzung der Kinderrechte im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe kann Potenziale wie (digitale) Teilhabe, Förderung der Identitätsentwicklung und Abbau von Ungleichheiten eröffnen.

Potenziale der Digitalisierung in der Kinder- und Jugendhilfe

Bisher wurde deutlich, wie komplex die Auswirkungen der Digitalisierung auf die KJH sind. Durch eine bewusste Wahrnehmung und Steuerung dieser können vielfältige Potenziale sowohl für die Adressat*innen selbst als auch für die Einrichtungen, insbesondere für ihre Organisationsstruktur, erschlossen werden.

Bedeutung für Adressat*innen

Durch die Verfügbarkeit digitaler Medien in der KJH für die Adressat*innen kann diesen ein Zugang zu Information und Bildung, Kultur, Freizeit und Spiel sowie zu Vernetzung und Zugehörigkeit geboten werden. Darüber hinaus besteht so die Möglichkeit, Fähigkeiten zu erwerben, die in digitalisierten Gesellschaften zentral sind. Die Nutzung digitaler Medien trägt zudem zur Identitätsentwicklung bei und kann Ungleichheiten abbauen. Obwohl auch der Zugang zu Medien ungleich verteilt ist (First Level Divide) reicht es nicht, einfach nur Zugänge zu schaffen. All diese Möglichkeiten können nur in Verbindung mit Medienkompetenz(förderung) aufseiten der Fachkräfte und Adressat*innen erschlossen werden, da Ungleichheiten vor allem in der Nutzung der Medien (Second Level Divide) bestehen. Insbesondere junge Menschen in Heimunterbringung sind jedoch auch vom First Level Divide betroffen: „Aufgrund der mangelhaften Ausstattung profitieren junge Menschen in Heimen vergleichsweise wenig von den im Kontext der Digitalisierung erweiterten Kommunikations-möglichkeiten. Erschwerend kommt hinzu, dass sie zuweilen keine eigenen Endgeräte besitzen bzw. deren freie Verfügbarkeit oder die Möglichkeiten eines Internetzugangs häufig durch die Einrichtung reguliert werden.“ (Tillmann 2020, S. 8)

Bedeutung für die Einrichtungen

Für die Einrichtungen selbst ergeben sich durch die Nutzung von digitalen Medien ebenfalls vielfältige Chancen. Exemplarisch seien hier die Nutzung von digitalen Medien für die Öffentlichkeitsarbeit (bedingt u.a. Erreichbarkeit für die Zielgruppe) und die Möglichkeiten der Kommunikation und Vernetzung und der Risikoabschätzung mithilfe von Algorithmen (um ein verbessertes Recht auf Schutz zu erreichen, natürlich unter Berücksichtigung der entsprechenden Voraussetzungen) genannt. Eine Risikoabschätzung mithilfe von Algorithmen findet beispielsweise durch sogenannte „predictive risk modeling tools“ statt. Hierbei wird durch die Auswertung von Daten in Ländern wie Neuseeland oder den USA ein Risikoscore erstellt, der beim Erkennen von Kindeswohlgefährdung helfen soll. Beim Einsatz von Algorithmen ist es wichtig, sich der Bedeutungsmacht von digitalen Strukturen (Welche Daten können überhaupt eingegeben werden? Wer gibt die Daten mit welchen eigenen Vorurteilen ein? usw.) und der Deutungshoheit über die Ergebnisse (An welcher Stelle trifft die Fachkraft oder die Software eine Entscheidung?) bewusst zu sein.

Darüber hinaus können die Angebotsstrukturen der Einrichtung durch Onlineberatung und andere digitale Dienstleistungen (z.B. Terminvergabe, Informationsfluss) verbessert werden.

Jugendliche am Computer
Die Verfügbarkeit digitaler Medien in der Kinder- und Jugendhilfe kann einerseits ungleichen Teilhabechancen junger Menschen entgegenwirken und andererseits Arbeits- und Angebotsstrukturen der Einrichtungen verbessern. © Robert Kneschke

Warum Potenziale häufig nicht ausgeschöpft werden

Die notwendige Transformation der KJH scheitert zunächst einmal an der fehlenden technischen Ausstattung der Einrichtungen. Hinzu kommt der Mangel an geeigneter Software und geeigneten Plattformen, die den besonderen Ansprüchen der Kinder- und Jugendhilfe (Privacy first bei gleichzeitiger Attraktivität …) gerecht werden.  Hier wären zwingend sowohl politische Entscheidungsträger*innen als auch Einrichtungsträger*innen gefragt. Ist die technische Ausstattung und somit der Zugang zu digitalen Medien vorhanden, steht eine (teilweise) kritische Grundhaltung der Fachkräfte sowie fehlende Medienkompetenz und oft auch eine rechtliche Unsicherheit der Ausschöpfung der Potenziale im Weg. Fachkräfte empfinden auf der einen Seite eine hohe Verantwortung und müssen sich Träger*innen und Eltern gegenüber rechtfertigen, wenn sie digitale Medien einsetzen. Hierbei benötigen sie zwingend Unterstützung.

Auf Adressat*innen-Ebene ist zudem die fehlende Medienkompetenz der Kinder und Jugendlichen zu nennen. Denn all diese Potenziale können nur dann ausgeschöpft werden, wenn Medien sinnvoll und zielgerichtet genutzt werden. Ohne entsprechende Kompetenz kann die Wirkung auch ins Negative gleiten.

Gelingensbedingungen für die Ausschöpfung der Potenziale

Direkt aus den Hindernissen abgeleitet lassen sich Schlüsse ziehen, was in der KJH passieren müsste, damit die genannten Potenziale ausgeschöpft werden können. Hierbei sind folgende Akteure gefragt:

  • Politik: Auf politischer Ebene müsste neben einer verpflichtenden Förderung von passender Ausstattung die Förderung von Fortbildungen für Fachpersonal angestoßen werden. Darüber hinaus ist eine Rechtssicherheit bzw. eine „pädagogische Ausnahme“ im Umgang mit digitalen Medien im pädagogischen Kontext (Nutzung von WhatsApp als Kommunikationsmittel oder dem Einsatz von Computerspielen, die nicht für die Zielgruppe freigegeben sind) wünschenswert. Zudem wäre eine offizielle Anerkennung der Potenziale digitaler Medien wünschenswert.
  • Forschung: Im Bereich der Forschung müsste die Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen, die sich bspw. in einer außerhäuslichen Unterbringung befinden, stärker berücksichtigt werden. Nur so können sowohl den Fachkräften als auch der Politik wissenschaftlich fundierte Hinweise gegeben werden, wie digitale Medien sinnstiftend eingesetzt werden können.
  • Industrie: Bei der Entwicklung von digitalen Medien sollten die Bedürfnisse und Bedarfe von Kindern und Jugendlichen stärker in den Fokus genommen werden. Kindgerechtes Design bzw. Einstellungen im Sinne von Schutz (z.B. Privacy by default) müsste bei Produkten, die sich (auch) an Kinder und Jugendliche richten, zum Standard werden.
  • Fachkräfte und Adressat*innen: Sowohl Fachkräfte als auch Adressat*innen müssten mit entsprechenden Angeboten zur Medienkompetenzförderung versorgt werden. Voraussetzung für eine gelingende Beziehungsarbeit mit digitalen Medien ist ein tieferes Verständnis für die Mediennutzung der Adressat*innen. Hierzu gehört auch eine Akzeptanz der (medial geprägten) Jugendkultur.

Fazit

Digitale Medien bieten für die Kinder- und Jugendhilfe Potenziale, die nur bei einem kompetenten Einsatz ausgeschöpft werden können. Aus kinderrechtlicher Sicht ist vor allem der Partizipations- bzw. Teilhabeaspekt zentral. Nur wenn digitale Medien in den Einrichtungen vorhanden sind und die Fachkräfte entsprechend qualifiziert sind, kann eine digitale Transformation der Kinder- und Jugendhilfe gelingen.

Handlungsempfehlungen für eine Stärkung von Kinderrechten

Von Prof. Dr. Angelika Beranek
Prof. Dr. Angelika Beranek ist seit 2015 Professorin an der Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften der Hochschule München. Sie beschäftigt sich dort mit den Auswirkungen der Digitalen Transformation auf Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit.